Romanauszug ‚Rohrkrepierer’ S. 245
Gottes Mühlen mahlen langsam, aber jeder kommt mal
ran.
Wenn es dann endlich soweit ist, stellt sich
garantiert die Frage, ob die Liebe eine Rolle
spielt. Und wenn ja, ob sie sich wie Sternenstaub
auf dein Innerstes legt oder wie eine Granate in
dein Dasein bohrt und alles auseinander reißt.
Dann musst du das Puzzle, das dein Leben ist, neu
zusammensetzen, weil du endlich weißt, wo die
Sehnsucht hingehört, die immer so unhandlich am
Rande rumgelegen hat.
Ich kann es kaum glauben und suche um fünf Uhr
morgens auf dem ersten Dampfer von Altenwerder
zurück nach Hamburg in einem Spiegel nach Beweisen.
Ich kucke genau hin, ob sich auf meiner Stirn, an
meinen Lippen, meiner Augenfarbe irgendwas, eine
klitzekleine Veränderung ausmachen lässt.
Da gibt es doch diese Geschichte, dass jemand vor
Kummer über Nacht graue Haare bekommen hat. Weshalb
sollte sich nicht auch bei einer so elementaren
Erfahrung wie das erste Mal ein wissender
Gesichtsausdruck oder ein ansteckendes Dauerlächeln
in die Augenwinkel einschleichen?
Ich falle in die alte Gewohnheit zurück, ein Gesicht
wie Errol Flynn zu machen oder die einseitig krause
Stirn und das breite Grinsen von Clark Gable. Ja,
ich bin jetzt ein Mann, ein Held, der Held der
ersten Nummer. Ich befinde mich auf der
Bordtoilette. Der Maschinentelegraf klingelt, sie
gehen mit der Drehzahl runter.
Natürlich hätte ich schon in Altona aussteigen
können, aber dort herrschte ein viel zu großes
Gedränge. Neben auffallend wachen und lauten
Menschen bevölkerten Hühner, Enten, ja, sogar
Schweine das Schiff. Alle Formen von Karren,
Bollerwagen und Fahrradanhängern mit Pflanzen,
Früchten, Gemüsen und Wurstwaren wurden rumpelnd
und fluchend über die Gangway an Land gezerrt.
Heute Morgen ist Fischmarkt. Das ist für einen
sensiblen Menschen nach der ersten Nummer seines
Lebens ein viel zu großes Getöse. Also habe ich
mich auf die Bordtoilette zurückgezogen.
Der Dampfer beginnt jetzt mit der Drehung, um
gegen die Tide an den Landungsbrücken festzumachen.
Ich halte mich am Waschbecken fest.
Wenn ich an Anna denke, bewegt sich etwas in
meinem Kopf, meinem Herzen und meiner Hose. Die
Reihenfolge kann auch Herz, Hose, Kopf sein oder
Hose, Kopf, Herz.
Der Unterschied zu vorher ist, dass es etwas
Konkretes gibt, an das ich mich erinnern kann, das
mich erregt, nicht so was Theoretisches wie die
Hefte über Nacktkörperkultur, die ich unter den
Hemden im Schrank meiner Eltern entdeckt habe oder
das anatomisch zerlegbare Modell des weiblichen
Körpers aus dem Ärzte-Buch meiner Großmutter.
Ich habe Nacktkörperkultur praktiziert, und das war
weit entfernt von den gewollt künstlerischen
Nacktfotos oder der aufklappbaren Anatomie einer
Frau, das war – Nacktkörperkultur pur, IHREN Körper
riechen, anfassen und schmecken, oh Gott, ich habe
ihren kleinen – festen – Busen – geküsst!
Die Maschine geht jetzt auf Stopp. Für einen kurzen
Moment heult sie im Leerlauf auf, dann dreht sich
der Propeller rückwärts.
„Kann denn Liebe Sünde sein?“ Clark Gable imitiert
Zarah Leander bevor er aus dem Spiegel verschwindet.